TagesAnzeiger vom 13.7.2009

Verurteilt – doch Ethikerin bleibt im Amt

Von Hugo Stamm

Darf das Mitglied einer Ethik-Komission einen unbescholtenen Klinikleiter diffamieren und trotzdem weiter als Expertin amten? Regierungsrat und Bundesrat sagen Ja.

In ihrem Berufsleben dreht sich alles um Ethik. Die Zürcher Theologin Ruth Baumann-Hölzle sitzt als bekannte Expertin an vielen Schalthebeln. So leitet sie das Institut Dialog–Ethik in Zürich, ist Mitglied der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin und der kantonalzürcher Ethikkommission. Trotz der beruflichen Kompetenz diffamierte sie einen Klinikleiter und wurde dafür vom Bezirksgericht Hinwil wegen übler Nachrede verurteilt. Baumann-Hölzle sieht deswegen aber keinen Grund, aus den Ethikkommissionen auszutreten.

Falsche Anschuldigungen

Die Geschichte begann mit einem Artikel in der «Schweizerischen Ärztezeitung». Baumann-Hölzle referierte in einer Ausgabe vom August 2007 über ihr Spezialgebiet der Sterbehilfe. Als negatives Beispiel erwähnte sie die Wetziker Klinik Sonnweid. «Dort wird mit der Sterbehilfeorganisation «Dignitas» bei urteilsfähigen dementen Patienten Suizidhilfe geleistet», schrieb Baumann-Hölzle. Patienten erhielten Beruhigungsmittel, «um bewusst ihren Tod herbeizuführen». Der Leiter der Klinik bezeichne dies als aktive Sterbehilfe. Die Angaben hatte Baumann-Hölzle der Drogerie-Zeitschrift «Natürlich» entnommen.

Diese Informationen entbehrten jeder Grundlage, wie das Gerichtsverfahren ergeben sollte. Die Klinik arbeitet nicht mit Dignitas zusammen, und sie führt auch keine aktive Sterbehilfe durch. Ironie des Schicksals: Die Sonnweid-Klinik wendet die Richtlinien des Ethik-Instituts von Ruth Baumann-Hölzle an.

Bezug auf Todespfleger

Besonders hart traf es den Klinikleiter, der im Artikel namentlich genannt wurde. Die Ethikerin bezichtigte ihn der wiederholten vorsätzlichen Tötung auf Verlangen. Zudem nahm sie Bezug zum Todespfleger von Luzern, der 22 alte Menschen umgebracht hat.

In ihrem Eifer gelangte die Ethikerin an die Zürcher Staatsanwaltschaft und die Gesundheitsdirektion. Sie verlangte eine Überprüfung der Klinik. Baumann-Hölzle glaubte, in der Sonnweid würden strafbare Handlungen vorgenommen. Nach kurzen Abklärungen stellten die Behörden fest, dass die Anschuldigungen haltlos waren.

Für den Klinikleiter bestand kein Zweifel, dass es sich beim Artikel und den Meldungen an die Behörden um einen gezielten Angriff auf seine Person handelte, wie sein Anwalt beim Prozess im Dezember vergangenen Jahres ausführte. Die Ethikerin widersprach. Es sei ihr beim Artikel in der Ärztezeitung lediglich um die wachsende Begriffsverwirrung beim Thema Sterbehilfe gegangen. Um dies zu verdeutlichen, habe sie das Beispiel der Klinik Sonnweid angeführt.

Persönliche Abrechnung?

Die Ethikerin behauptete weiter, akribisch recherchiert zu haben. Mit dem angeschuldigten Klinikleiter hatte sie aber nicht gesprochen und ihm auch nicht Gelegenheit gegeben, seine Sicht darzulegen. Der Klinikleiter ist überzeugt, dass Baumann-Hölzle sich mit dem Artikel für einen Disput rächen wollte, den die beiden zur Sterbehilfe in den Stadtzürcher Altersheimen ausgefochten hatten.

Das Bezirksgericht Hinwil bestätigte in seinem Urteil die Falschinformationen. Da Baumann-Hölzle ihre Aussagen nicht wider besseres Wissen gemacht habe, könne sie nicht wegen Verleumdung verurteilt werden, sondern nur wegen übler Nachrede. Das Verschulden von Baumann-Hölzle wiege hingegen sehr schwer. Der Schaden sei für den Klinikleiter immens. Deshalb bestrafte das Gericht die Ethikerin mit einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 125 Franken bei einer zweijährigen Probezeit. Dem Klinikleiter musste sie eine Entschädigung von 8800 Franken zahlen.

Unethische Ethik-Expertin

Baumann-Hölzle verzichtete darauf, das Urteil weiterzuziehen, weshalb es kürzlich rechtskräftig wurde. Offen blieb indes die Frage, ob eine wegen unethischen Verhaltens verurteilte Ethik-Expertin in Ethikkommissionen tragbar sei. Ja, befand der Zürcher Regierungsrat. Gesundheitsdirektor Thomas Heiniger (FDP) erklärte, dass der Grundsatz der Verhältnismässigkeit von zentraler Bedeutung sei. «Im Lichte der Tatsache, dass sich Ruth Baumann-Hölzle seit Jahren mit grossem Einsatz und Fachwissen für ethische Belange im Gesundheitswesen engagiert und diesbezüglich über einen eindrücklichen Leistungsausweis verfügt, erscheint es als unverhältnismässig, ein einmaliges Fehlverhalten mit einem Ausschluss aus der Kantonalen Ethikkommission zu sanktionieren.» Hinzu komme, dass Ruth Baumann-Hölzle eigene Fehler eingeräumt habe. Auch Bundesrat Pascal Couchepin (FDP) sieht keine Veranlassung, Ruth Baumann-Hölzle aus der Nationalen Ethikkommission auszuschliessen. Thomas Zeltner, Direktor des Bundesamtes für Gesundheit, bestätigt den Sachverhalt: «Aus der Sicht von Herrn Bundesrat Couchepin besteht weder aus sachlichen noch rechtlichen Gründen Anlass, auf die Mitarbeit von Frau Dr. Baumann-Hölzle in der Nationalen Ethikkommission zu verzichten.» Ein Strafurteil sei kein Hindernis für die Wählbarkeit einer Person in eine ausserparlamentarische Kommission. Somit sehe das Gesetz auch nicht vor, ein bereits gewähltes Mitglied abzuberufen. Nach der Einschätzung des Bundesrates bestehe auch kein öffentliches Interesse, Baumann-Hölzle aus der Ethikkommission auszuschliessen.

Ethikerin: «Das war ein Fehler»

Ruth Baumann-Hölzle bedauert rückblickend, dass sie vorgängig nicht mit dem Klinikleiter gesprochen hat. «Das war ein Fehler», gesteht sie. Leider sei die Gegenpartei nicht bereit gewesen, eine Richtigstellung gegenüber dem Klinikleiter in der Ärztezeitung zu akzeptieren. Ausserdem seien auch ihre Angebote, eine Lösung im gegenseitigen Einvernehmen zu suchen, erfolglos geblieben. Sie habe vergeblich versucht, sich persönlich beim Klinikleiter und seinem Personal zu entschuldigen. Es sei ihr nie um eine Abrechnung gegangen.

Sie selbst habe das Urteil unaufgefordert dem Bundesrat und Regierungsrat geschickt. «Diese erachteten den Vorfall offenbar nicht als ausreichend, um von mir Konsequenzen zu verlangen, wahrscheinlich angesichts meines sonstigen Leistungsausweises.»

©Tages-Anzeiger, Zürich